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Die große Schnappi-Plüschpuppe hat Joy Gruttman (heute 18) noch. Sie lagert bei Tante Iris Gruttmann im Keller.

© Gennies

Joy Gruttmann 10 Jahre nach dem Welterfolg: Schnappi wird erwachsen

Ein Kinderlied, aufgenommen auf einer Kassette, wird durchs Internet zum Riesenhit. Das hatte die deutsche Musikbranche noch nicht erlebt – und witterte einen Ausweg aus der Krise. Zehn Jahre ist das nun her. Das Krokodil "Schnappi" aber begleitet die Sängerin Joy Gruttmann bis heute.

Manchmal singt sie es noch. Zu Hause, für ihren kleinen Bruder. „Schni, Schna, Schnappi, Schnappi, Schnappi, Schnapp.“ Ein Kinderlied. Für Joy Gruttmann das Lied ihrer Kindheit. Als sie diese Zeilen zum ersten Mal sang, war sie vier. Stand auf ihrem kleinen Hocker im Tonstudio, weil sie ohne nicht ganz bis ans Mikro heranreichte. Das Lied hat sie nicht mehr losgelassen. Bis heute. Zehn Jahre nachdem das Lied zum Hit wurde, kann Joy Gruttmann „Schnappi, das kleine Krokodil“ nun vielleicht hinter sich lassen.

Eine Wohnung in Köln-Mariendorf. Tina Turner hat in der Gegend mal gewohnt, Herbert Grönemeyer. Harald Schmidt lebt hier immer noch. Joy Gruttmann streckt die Hand aus zum Gruß. Schwarzes Jacket, Bluse, Blue-Jeans, die blonden Haare zum Zopf gebunden. Sie ist jetzt 18, sitzt neben ihrer Tante Iris Gruttmann am Wohnzimmertisch. Der gehört die Wohnung, sie hat das Lied damals geschrieben, das beider Leben völlig verändert hat. Das Millionen Menschen erfreute, und mindestens ebenso viele Millionen nervte. Was macht der Ruhm mit einem kleinen Mädchen? „Wie man sieht: Ich bin nicht aus dem Fenster gesprungen und ich nehme auch keine Drogen, trinke keinen Alkohol“, sagt Joy Gruttmann und lacht. Zum Spaß schiebt sie die Ärmel ihres Jackets ein Stück nach oben: keine Narben über den Pulsadern. „Also wirklich ganz normal.“

"Du Iris, ich möchte mal ein Lied ganz für mich alleine haben"

Normal – das sagt sie oft, ihre Tante auch. Dabei war wenig normal am Phänomen „Schnappi“. Ein weltweiter Hit, der bei seiner Entstehung nur ein Spaß für die vierjährige Joy sein sollte, und es wohl auch geblieben wäre, wenn Anfang der 2000er Jahre die Digitalisierung die Musikindustrie nicht komplett umgekrempelt hätte. Im Regal der Tante steht silbern schimmernd der Preis des Bundesverbandes der deutschen Musikindustrie. Der Echo für die „Download-Single des Jahres 2004“. Es war das erste und einzige Mal, dass ein Echo in dieser Kategorie vergeben wurde.

Joy Gruttmann wirkt entspannt. Interviews ist sie gewohnt, auch wenn in den letzten Jahren die Anfragen deutlich weniger geworden sind. Ganz genau kann sie sich nicht mehr erinnern, wie das damals alles über sie hereingebrochen ist. Nur noch daran, dass sie immer gerne gesungen hat. Dass ihre Tante Iris für den WDR „Sendung mit der Maus“-Lieder produzierte, fand sie cool, manchmal sang sie kleinere Parts ein. Soweit beide es rekonstruieren können, sagte sie irgendwann: „Du Iris, ich möchte eigentlich auch mal ein Lied für mich ganz alleine haben.“

Beginn des Schnappi Hypes ist Ende einer normalen Kindheit

2001 komponierte Iris Gruttmann ihrer Nichte einen Song. Fünf Töne, einfacher Text, ein moderner Bi-Ba-Butzemann. Schni, Schna, Schnappi war geboren. Dass Joy Gruttmann ihr Lied einige Jahre später mit der ganzen Welt würde teilen müssen, teilen dürfen, ahnte noch niemand. Der Song kam auf die Musikkassette „Iris Lieder – Lied für mich“ und kaum jemand nahm Notiz. 2003 fand er sich auch auf dem Sampler „Großes und Kleines mit der Maus“ wieder. Erst 2004 machte sich jemand, wer ist nicht bekannt, die Mühe, und wandelte das Lied von der analogen Kassettenaufnahme in eine MP3-Datei um, stellte sie ins Netz. Es ist der Beginn des Schnappi-Hypes und das Ende der Normalität in Joy Gruttmanns Kindheit.

„Wir kamen im August 2004 gerade aus dem Urlaub, als ich einen Anruf bekam: ,Google mal Schnappi. Da passiert im Netz gerade irgendetwas mit deinem Lied‘“, sagt Iris Gruttmann. Die Suchmaschine lieferte unzählige Ergebnisse. Das Lied wurde in den unterschiedlichsten Foren diskutiert. Popper, Rocker, Techno-Fans. Selbst auf dem Wacken-Open-Air konnte man sich dem Song nicht entziehen: „Die haben echt in den Pausen Schnappi laufen lassen. Heavy-Metal-Typen, groß und breit, tätowiert, mit Bierdose in der Hand und die brüllten Schnappi.“

Der unverhoffte Kult um das Lied versprach nur Gewinne

Wie ein Virus hatte sich das Lied über Tauschbörsen, E-Mails und Chats verbreitet. Um diesen viralen Marketingeffekt zu erreichen, gibt die Musikindustrie heute viel Geld aus. Doch damals galt die Gratiskultur im Internet noch als Erzfeind der kommerziellen Musik. Tauschbörsen wie Napster oder später Kazaa und Emule minderten die weltweiten Plattenverkäufe, die Branche klagte über Milliarden-Einbußen. Das MP3-Format, das Musik in handliche Datenpakete komprimieren konnte und die Internetverbindungen, erst ISDN und dann DSL, die den privaten Datenaustausch schneller und bezahlbar machten, galten als Profithemmnis. Doch Schnappi war ohnehin nie für den Massenmarkt konzipiert gewesen. Der unverhoffte Kult um das Lied versprach nur Gewinne.

Zehn Wochen lang hielt sich das Lied in Deutschland auf Platz 1 der Charts, in Österreich und Norwegen sieben Wochen. In den Niederlanden war der Song auf Deutsch auf Platz 1, während die niederländische Version Platz zwei belegte. „Crocky le Petit Crocodile“ eroberte Frankreich, „Šnapis mažas krokodilas“ Litauen und in Japan dudelte „Togetogeshi, chiisai wani“ über die Sender.

Comeback? Nur wenn David Guetta anruft!

Schni, Schna, Schnappi. Dem Song und der kleinen Joy konnte sich 2004 kaum jemand entziehen. Zehn Wochen hielt sich das Lied auf Platz 1 der Charts.

© ullstein bild

„Es war überwältigend: Man hört Radio und plötzlich ist das Lied, das man selber gesungen hat, Platz 1 der Charts. Auch wenn ich im Nachhinein daran denke, ist das einfach total absurd“, sagt Joy Gruttmann. Für sie war es ein Spaß, die Branche witterte einen Ausweg aus der Krise. Zunächst war es der Radiosender SWR3, der von Hörern auf das Internetphänomen aufmerksam gemacht wurde und das Lied immer wieder in seiner Morgenshow spielte. Weitere Radiosender, vor allem in Österreich und Süddeutschland zogen nach. Der Schnappi-Virus erfasste das ganze Land. Im Ruhrpott, wo das Lied entstanden war, setzte es sich zuallerletzt im Mainstream durch.

Die Plattenfirma „Polydor-Records“ (heute Universal Music) entschied sich, das Lied leicht bearbeitet als Single herauszubringen. Schon im Oktober 2004 soll der verantwortliche Talentscout über die Musikfachmesse Popkomm gelaufen sein und die damals inzwischen achtjährige Joy mit den Worten vorgestellt haben: „Hier steht unsere neue Nummer eins.“ Am 6. Dezember wird die CD veröffentlicht, es ist Joys Geburtstag.

Schnappi-Bettwäsche, Schnappi-Uhren, Schnappi-Brotaufstrich

Plüsch gewordene Erinnerungen an diese Zeit lagern bei ihrer Tante im Keller. Joy Gruttmann erhebt sich vom Stuhl und läuft die Treppe hinunter, wo heute auch ein kleines Tonstudio eingerichtet ist. Sie öffnet einen Kleiderschrank, der überquillt mit Devotionalien: Schnappi-Kuscheltiere, Schnappi-Bettwäsche, Schnappi-Uhren, Schnappi-Brettspiele. Es soll sogar einen Schnappi-Brotaufstrich gegeben haben, aber der habe ihr nicht so geschmeckt.

Vieles von dem, womit die Branche damals versuchte, den Schnappi-Erfolg aus dem Internet in die klassischen Vermarktungswege herüberzuretten, ist heute Geschichte. Die Musikindustrie hat die Abgrenzung zum Internet längst überwunden.

Durch kostenpflichtige Downloadplattformen wie iTunes oder Amazon hat sie ihren Frieden mit der MP3 geschlossen. Große Hitparaden, wie die US-amerikanischen Billboard-Charts, sind dazu übergegangen, Streamingportale wie Spotify und Rdio bei ihren Platzierungen zu berücksichtigen, selbst Klicks auf Youtube-Videos zählt die Branche jetzt mit.

100 Stunden Videomaterial hat Iris Gruttmann über ihre Nichte gesammelt. Die kleine Joy bei Kai Pflaume zum Beispiel. Ihr Auftritt bei „The Dome“ (seit 2012 ist die Sendung eingestellt). Auch bei „Wetten, dass..?“ war sie eingeladen. Es gab Zeiten, da war Joy jeden Tag im Fernsehen.

"Für manche hieß ich nur noch Schnappi"

Mit dem Erfolg kamen die Neider – und die Frage: Wie viel darf man einem jungen Mädchen eigentlich zumuten? Das Netz, das sie großgemacht hatte, begann bald Häme und Spott über Joy auszugießen. „Schlappi, das kleine Drogodil“ und „Fi, Fa, Ficki“ sind nur zwei der Parodien, die kursierten. Besonders störten sich die „Schnappi“-Hasser an der Dauerbeschallung durch die Jamba-Klingelton-Werbung, die den Song ohne Wissen oder gar Zustimmung der Gruttmanns vermarktete. Nachts spielte Schnappi plötzlich zwischen Werbung für Telefonsex, das Lied wurde missbraucht, um Kindern teure Download-Abos anzudrehen. Die Gruttmanns mussten gerichtlich gegen Jamba vorgehen.

Es sind unschöne Erinnerungen, die Joy Gruttmann heute mühelos ausblenden kann. Sie denkt lieber daran, wie aufregend damals alles war. In der Schule gab sie in den Pausen Autogramme. „Das war schon wirklich witzig. Wenn man sich überlegt: Andere sind in dem Alter auf dem Klettergerüst rumgeturnt“, sagt sie. Plötzlich wird sie auf der Straße erkannt, im Schwimmbad, beim Einkaufen. Meistens habe sie die Aufmerksamkeit genossen, sagt sie heute. Nur eben nicht immer. „Für manche hieß ich auch gar nicht mehr Joy, sondern nur noch Schnappi. Irgendwann fand ich das total ätzend.“

Die digitale Welt hat Joy längst ersetzt

Die Gefahr, dass der Ruhm ein Kind überfordern kann, war auch der Familie bewusst. Anfangs stand sogar infrage, ob Joy überhaupt in der Öffentlichkeit auftreten sollte. Für den Fall, dass sie irgendwann keine Lust mehr hat und aussteigen möchte, wurde ihr eine Schnappi-Puppe an die Seite gestellt, die sie bei jedem Auftritt begleitete. Sie sollte der kleinen Sängerin die Sicherheit geben, eine Show jederzeit absagen zu können, dann würde die Puppe alleine auftreten. Auch die Plattenfirma machte sich nicht von den Launen einer Neunjährigen abhängig. Damit die Leistung in der Schule nicht unter den Medienanfragen leidet, produzierten die Gruttmanns ein „Electronic-Press-Kit“ mit vorgefertigten Fragen und Antworten, die auf Video aufgezeichnet wurden. Die TV-Interviews kamen also größtenteils aus der Konserve.

Die Aufmerksamkeitsspanne im Internet ist kurz. Bald vergaß die digitale Welt Joy, ersetzte sie durch andere Stars. Trashhits wie „Veo Veo“ von den Hot Banditoz oder „Ilarie“ von Las Chicas wurden erst durch die illegale Verbreitung zum Hit. Grup Tekkan sangen 2006 ihren Hit „Wo bist du mein Sonnenlicht“ in einem selbst gedrehten Video dermaßen schlecht und amateurhaft, dass Nutzer im Netz sich zu Tausenden darüber amüsierten, schließlich wurde auch das zum kommerziellen Erfolg.

Joy Gruttmann hat sich anderen Feldern gewidmet. Professionelle Sängerin habe sie nie werden wollen, das Handwerkliche liege ihr mehr. Jetzt geht sie in die Küche und bereitet das Mittagessen vor. Es gibt Rindersteak, Salat und Kartoffelgratin aus dem Biomarkt. Kochen sei eines ihrer liebsten Hobbys, sagt sie. Seit sie sich erinnern kann, will sie Architektin werden. Seit einigen Wochen macht sie eine Tischlerlehre, danach wird sie „Interior Design“ studieren. Irgendwo an einer privaten Hochschule in den Niederlanden. Wo niemand sie mehr mit dem Stoffkrokodil in Verbindung bringt. Das Geld dafür ist da, die Einnahmen von damals hat sie bisher nicht angerührt. Gewissermaßen erfüllt Schnappi ihr damit einen Traum – und lässt sie gehen, nach zehn Jahren.

Es wird Zeit für etwas Neues

Denn ihre Familie, Freunde und Klassenkameraden haben Schnappi bis heute nicht vergessen. „Gerade wenn man auf Kursfahrt fährt, feiern die ganzen Jungs das immer noch hart. Was soll man dann machen? Dann muss man mitziehen“, sagt sie. Im Frühjahr, nachdem sie ihr Abitur bestanden hatte, nahm sie gewissermaßen Abschied. Das Motto der Abi- Feier lautete „Helden der Kindheit“, Joy Gruttmann verkleidete sich als Schnappi.

Nein, es war nichts normal an dieser Kindheit, aber sie sei glücklich gewesen, sagt sie. Am Laptop ruft sie die Fotos von damals auf. Joy backstage mit Tokio Hotel, mit den Prinzen, mit Otto Waalkes. Sie klappt ihn zu. Die Zeiten sind vorbei. Es wird Zeit für etwas Neues.

Wobei. Gefragt ob sie nicht doch noch einmal singen würde, wenn ihr Lieblingskünstler anruft und nach einer Kooperation fragt, muss sie kichern. Sie antwortet halb im Scherz: „Wenn jetzt David Guetta anrufen würde, dann käme ich nicht drum rum. Ich glaube zwar nicht, aber man weiß es ja nicht.“

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